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„Die Motoren fahren wieder hoch…“

Interview mit Dr. Tayfun Belgin zu aktuellen Ausstellungen im Osthaus-Museum

Seit dreizehn Jahren ist er Direktor des Osthaus Museums, 2012 übernahm er dazu die Leitung des Fachbereichs Kultur der Stadt Hagen: Kunsthistoriker Dr. Tayfun Belgin blickt zuversichtlich auf die nächsten Monate. 

Museumsdirektor Tayfun Belgin vor „Welt der Energie“ 2020 / Corona;
© Osthaus Museum Hagen

Top Magazin: Ab dem 15. August bis 20. September wird einer der bedeutendsten Künstler der zeitgenössischen Szene in Hagen vertreten sein. Unter anderem gibt es da den Film „Breathe In/Out“ zu sehen. Der Künstler, Wang Huangsheng, gerät in eine Art Trance, während er in einer Atelier-Szenerie zwischen Sauerstoffflaschen mit Schlagzeugstöcken agiert… Natürlich wurde dieser Film vergangenes Jahr produziert, hat also keinen aktuellen Bezug. Auf den ersten Blick und von heute betrachtet – man denke an George Floyd und an beatmete Corona-Patienten – bekommt das jetzt mal eine andere Dimension?

Dr. Tayfun Belgin: Kunst, die eine bestimmte inhaltliche Dimension hat, ist im Prinzip immer aktuell. Es ging dem chinesischen Künstler Wang Huangsheng bei seiner wunderbaren Installation auch darum, einen allgemein-gesellschaftlichen Zusammenhang, nämlich denjenigen von Aktion und Entspannung  aufzuzeigen. Es ist also ein Auf und Ab, welches wir in Betrachtung der politischen Landkarte genauso erfahren wie – in Corona-Zeiten – das bewusste Atmen. Menschen atmen ein und aus, jeden Tag, das ist Leben. In Fernost – durch die Meditationstradition –  ist bewusstes Atmen sehr viel präsenter als bei uns. 

Top Magazin: Als ich davon gelesen habe, insbesondere davon, dass er in eine Trance gerät, musste ich an den österreichischen Künstler Flatz denken. Der hat sich doch mal zwischen zwei Metallplatten hin und her schwingen lassen. Irgendwann in den 80ern war das. Wo steht denn diese Aktionskunst heute, welche Rolle spielt sie? 

Dr. Tayfun Belgin: Ich nenne Ihnen vier Beispiele von Aktionskunst, die bekannt sind. Die Künstler sind: Der vor kurzem verstorbene Verhüllungskünstler Christo, dann Hermann Nitsch, der das Orgien-Mysterien-Theater mit Aktionen erfunden hat, die internationalen Femen-Aktivistinnen sowie Pjotr Pawlenski, der Erfinder der David-gegen-Goliath-Inszenierung, der sich selbst den Mund zunäht, der seinen Hodensack auf den Roten Platz nagelt, der sich nackt in eine Rolle Stacheldraht legt usw.

Wang Huangsheng Selbstbildnis, 2019; © Studio Wang Huangsheng

Top Magazin: Bevor Sie 2007 nach Hagen kamen, waren Sie unter anderem länger an der Kunsthalle Krems. Wie würden Sie das Hagener Publikum beschreiben? Gibt es Dinge, die hier  besser funktionieren als anderswo? 

Dr. Tayfun Belgin: Hagen hat durch sein Theater und das Folkwang Museum eine mehr als 100-jährige Tradition Bildender Kunst auf hohem Niveau. Im Kern wissen die Hagenerinnen und Hagener sowie Menschen aus Südwestfalen und dem Ruhrgebiet dies sehr wohl zu schätzen. Unsere Arbeit wird in aller Regel sehr positiv begleitet. Krems an der Donau liegt in der Wachau, ist Weingebiet, hat allerdings nur 25.000 Einwohner. Das bedeutet, dass wir besonders in Wien und auch in anderen Teilen der Republik viel Werbung machen mussten, um unsere Besucher nach Niederösterreich zu holen. 

Peter Land, Back to Square One, 2015; © Peter Land

Top Magazin: Stichwort „Urlaub zuhause“…  diesen Sommer unternehmen die Menschen besonders gerne Kurz-Ausflüge. Welche Angebote über die Ausstellungen hinaus erwarten einen im Osthaus-Museum und an welche Zielgruppen sind sie gerichtet?

Dr. Tayfun Belgin: Durch die Corona-Krise mussten wir für einige Wochen schließen, unsere Ausstellungen um Monate verschieben. Jetzt eröffnen wir mit Wang Huangsheng und den Hyperrealisten im August zwei großartige Ausstellungen, die vorher nicht parallel gelaufen wären, sich aber großartig ergänzen. Rauminstallationen auf der einen Seite, nahezu lebensechte Menschenskulpturen auf der anderen, in beiden Ausstellungen finden sich junge wie auch junggebliebene Besucher zurecht. 

Top Magazin: Es gibt ja dieses Brecht-Zitat, wonach „erst das Fressen, dann die Moral kommt“ – auf Kunst bezogen… heißt das, derzeit ist das Interesse an Kunst geringer als sonst, weil die Menschen durch Corona Existenz-Sorgen haben, oder im Gegenteil steigt es, weil ohnehin jeder „auf Pause gestellt“ wurde und sich mit immateriellen Dingen beschäftigen möchte?

Dr. Tayfun Belgin: Alle Museen dieser Welt hatten einen Stillstand und fahren ihre Motoren langsam hoch. Das Besucherinteresse ist ohne Zweifel vorhanden, es macht viele Besucher glücklich – wir sprechen jeden Tag Besucher an –, auch wenn unsere Zahlen nicht mit denen vor der Krise zu vergleichen sind. Der Mund-Nasen-Schutz muss hierzulande erst zur Normalität werden, dann haben wir sicherlich mehr Besucher. In Fernost – Japan, China etc. – sind diese Masken schon lange üblich, vor allem bei Erkältungskrankheiten. Wir werden bis zur Anwendung eines wirkenden Impfstoffs, also bis 2022 vermutlich uns mit dieser „Neuen Normalität“ vertraut machen müssen. 

Sam Jinks, Untitled (Kneeling Woman), 2015 © Sam Jinks

Top Magazin: Noch eine Frage zu einer weiteren Ausstellung, die am 23. August beginnt… Um „eine Art von Realismus, der auf der physisch naturgetreuen Erscheinung des menschlichen Körpers beruht“, geht es da. Alle wichtigen Vertreter der hyperrealistischen Bewegung werden vertreten sein. Setzen wir diese Bewegung – eigentlich aus den 60ern und 70er Jahren – mal in eine Beziehung zu heute aktuellen Themen, wie z.B. „Bodyshaming“ – entstanden u.a. durch unendlich geschönte Instagram-Fotos… bekommt diese Kunstrichtung damit noch eine ganz neue Dimension?

Dr. Tayfun Belgin: Seit den späten 1960er und der frühen 1970er-Jahren beschäftigten sich unterschiedliche Bildhauer mit dieser Form des Realismus, der die lebensechte Erscheinung des menschlichen Körpers zum Vorbild hat. Das war damals eine Gegenbewegung gegenüber der Abstraktion, den abstrakten Gemälden und Zeichnungen, die nach 1950 den Kunstmarkt geradezu überschwemmten. Hyperrealistische Skulpturen ahmen Formen und Texturen des menschlichen Körpers oder einzelner Partien nach und kreieren so eine überzeugende visuelle Illusion menschlicher Körperlichkeit. Das alles spielt sich im Medium der Kunst ab, man kann diesen Werken auf gleicher Augenhöhe begegnen. „Bodyshaming“ hingegen ist eine negative Sicht auf Menschen. Es geht hierbei um Diskriminierung, Beleidigung, Mobbing, Demütigung von Menschen aufgrund ihres Aussehens, welches für andere vermeintlich nicht „normkonform“ oder extrem geschönt ist. Dieser psychologische Abgrund hat mit den Werken dieser Ausstellung nichts zu tun. Unsere Ausstellung: ¿Lebensecht? Hyperrealistische Skulpturen fragt nach der Verfasstheit des Menschen. Durch die rasanten Entwicklungen in Genforschung, Robotik und künstlicher Intelligenz ist die philosophische und ethische Frage nach dem Wesen des Menschseins notwendiger denn je.

Top Magazin:
Herzlichen Dank für das Gespräch!