AktuellMenschenNEU

C.T.C Mit Alexander Omar Kalouti im Bosporus

Es ist Mitte Oktober und ein richtig guter Zeitpunkt, Alexander Omar Kalouti näher kennenzulernen: Der Wahlkampf ist vorbei, seine erste Amtszeit als Oberbürgermeister hat noch nicht begonnen. Wir treffen uns in seinem Stammlokal.

Draußen ist es an diesem Abend windig und nieselt. Also ist es ist besonders schön, die Schwelle zumBosporus in der Chemnitzer Straße zu übertreten: Warmherzig begrüßt uns das freundliche Service-Team um Restaurantbetreiber Cemil Yilmaz und bietet sofort einen warmen Tee an. Das Lokal gibt es seit über 20 Jahren und der Familienbetrieb mit seinem vielfältigen, orientalisch geprägten Angebot zu moderaten Preisen ist besonders bei Nachtschwärmern beliebt. Wir nehmen in einem separierten Abteil Platz. Unter den Kristalllüstern vor der roten Rose mit passender Kerze könnte man eher auf ein romantisches Date tippen als auf ein Interview mit dem designierten Oberbürgermeister. 

Wer ist dieser Mann, dem – so titelte es bundesweit und darüber hinaus – die „Sensation“ gelungen ist, nach fast 80 Jahren SPD-Regierung als CDU-Politiker Oberbürgermeister von Dortmund zu werden? Welche Situation wird er im Rathaus vorfinden? Wie will er mit den Mehrheitsverhältnissen umgehen? Wie die politischen Konkurrenten einander gewogen machen? Für welche Werte steht er? Und vor allem: Warum ist er der richtige Mann an der Spitze unserer Stadt, wenn es darum geht, all jene, die sich im Wahlkampf gegenseitig beharkt haben, wieder im Sinne eines gemeinsamen, guten Zieles zu einen?

Wenn er in den letzten Wochen und Monaten danach gefragt wurde, was ihn ausmache, antwortete er gerne „Ich bin ein ganz normaler Mensch.“ War das Kalkül? Die Antwort erinnert doch sehr an Jürgen Klopps Vorstellung bei der Pressekonferenz des FC Liverpool. Der hatte, in Anspielung auf das Statement des Star-Trainers Jose Mourinho, „I’m a special one“, viele Sympathiepunkte mit der Aussage „I am the Normal One“ gesammelt. Alexander Kalouti hat Wahlkampferfahrung und ist Pressesprecher… War das Absicht?

„Nein! Es war wirklich Zufall, dass ich mich so geäußert habe. Alle wollten von mir hören, was mich ausmacht. Und ich überlegte, ob man als OB-Kandidat eine bestimmte Persönlichkeit haben muss. Aber mein Ansatz ist es, Politik für die breite Bevölkerung zu machen. Das hat auch damit zu tun, dass in Zeiten der Ampel bestimmte identitäre Gruppen hervorgehoben wurden. Ich denke, es gilt, die vergessene Mitte wieder in den Fokus zu nehmen. Das sind die, die zu viel verdienen, um diese ganzen sozialen Benefits zu bekommen, aber nicht so viel, dass sie sich alles mal eben so leisten können. Die, die am Ende dann doch irgendwie kämpfen müssen. Eben auch Menschen, die mit ihren Steuern und Abgaben diese Gesellschaft tragen. Das ist eigentlich die Schicht, für die ich Politik machen möchte.“ 

Während wir das Gesagte wirken lassen, sucht unsere Foodkolumnistin einen passenden Wein aus. Was das Essen betrifft, so haben wir den Wirt einfach gebeten, zu servieren, was „Alexander“ – wie ihn hier alle nur nennen, am liebsten mag. Auf der Weinkarte finden sich „die üblichen Verdächtigen“, wie Lugana und Primitivo, die ganz sicher auch über jeden Zweifel erhaben sind. Aber es bietet sich doch an, in einem türkischen Restaurant einen türkischen Wein zu genießen. So fällt unsere Wahl auf den „Kavaklidere Prestige Öküzgözü 2018“. Öküzgözü ist die wohl bekannteste türkische Rebsorte und wird in Ostanatolien in der Region Elazig angebaut. Der Wein hat eine tiefrote Farbe und harmoniert hervorragend mit guten Gesprächen in angenehmer Gesellschaft. Gerade an so einem usseligen Oktoberabend. Zurück zur „vergessenen Mitte“… Meint er jene, die oft auch als „ehemalige Mittelschicht“ bezeichnet werden? Zum Beispiel die, die sich gerade darüber aufregen, dass sie, während die Kita in den Ferien geschlossen hat, neben den laufenden Beiträgen aber trotzdem weiter auch Essensgeld bezahlen sollen?  Und überhaupt, andere Städte haben die Kita-Beiträge schon abgeschafft. Wäre das Vorbild für ihn und Dortmund?

An dieser Stelle merkt man, dass er kurz innehält. Wie gesagt – wir sind in der Phase, in der er sein Amt noch nicht angetreten hat. Und, fast noch wichtiger: Er wird es schwer haben, was die Mehrheitsverhältnisse im Rat angeht. Gleichzeitig steht er aber so unter Beobachtung, dass jegliche öffentliche Äußerung gleich eine Schlagzeile nach sich ziehen kann. „Kalouti verspricht…“ heißt es dann schnell.

„Kita-Beiträge abschaffen, das finde ich als Gedanken durchaus überlegenswert“, antwortet er mit Bedacht. „Das ist eines der politischen Projekte für die nächsten fünf Jahre. Ganz wichtig ist ja die grundsätzliche Frage, worin wir eigentlich primär investieren wollen.“ Wie man auch als Schlagzeile gerade lesen konnte, ins Theater ja offenbar nicht? Jetzt noch ist er dort, wenn auch freigestellt, der Pressesprecher für den Bereich Oper…

„Doch! Auch ins Theater werden wir investieren. Das ist ja eine ganz verkürzte Diskussion, die gerade geführt wird. Besonders der Bereich Kunst und Kultur ist für Dortmund immens wichtig. Am Ende geht es darum, eine lebenswerte Stadt aufzubauen. Und Dortmund hat ein riesiges Potential. Das Theater, das Konzerthaus, das Domizil, die Clubs und sozusagen als Verlängerung dieser Kultur könnte man auch die Gastronomie sehen. Das gehört zusammen und ist enorm wichtig. Deswegen ist es auch durchaus legitim, über ein neues Schauspielhaus nachzudenken.“ Und in diesem Moment switcht es gewissermaßen in seinem Kopf, er wechselt die Perspektive. Jetzt kommt der künftige Oberbürgermeister zum Vorschein, der das große Ganze im Blick haben muss. „Es geht um ein neues Schauspielhaus, das Stand heute 114 Millionen Euro kosten soll, wobei wir allerdings sowohl Schulen und Kitas bauen, als auch unsere Infrastruktur verbessern müssen. Da gibt es dieses ‚Sondervermögen Bauen‘. Aber ich habe bisher noch keine richtigen Zahlen gesehen, wie das seriös finanziert werden soll.“ Was wir dann hören, hat ihn wohl erstaunt, uns geht es genauso: „Der Rat hat beschlossen, dass wir erst mal die Planung machen. Die soll 2029 beendet sein. Vier Jahre finde ich für eine Planung ziemlich heftig. Und allein diese Planung kostet 5,7 Millionen Euro. Das ist verabschiedet. Erst dann – nach meinen Informationen – entscheiden wir, ob wir das bauen. Dazu kommt, dass überhaupt nicht klar ist, ob letztendlich diese 114 Millionen Euro überhaupt reichen würden. Betrachten wir nur mal die Entwicklung der Baukosten in den letzten Jahren und das dann in Anbetracht dessen, dass der Haushalt der Stadt Dortmund 2025/2026 mit seinen tiefroten Zahlen gerade haarscharf an einer formalen Haushaltssicherungspflicht vorbeigeschrammt ist.“ Dass die Stadt Dortmund verschuldet ist, werden wir an diesem Abend nicht ändern. Aber wir können uns mit gutem Essen trösten: Der Service bringt uns vier Schälchen mit wunderschönen Meze. Die scharfe, fruchtige „Acili Ezme“ begeistert uns, aber auch der Auberginen Salat „Patlikan Salata“, bestehend aus gegrillten Auberginen, Paprika, Olivenöl und Granatapfelessig sowie die „Biber-Ceviz“, aus Paprika, Frischkäse und Walnüssen sind richtige Geschmacksbomben. Vierte im Bunde ist eine der besonderen Spezialitäten des Hauses, der Hummus mit gebratenem türkischen Rinderschinken. Dazu wird knuspriges Fladenbrot gereicht.

Die mögliche Absage an einen Theaterneubau war als eine der ersten Äußerungen Kaloutis nach seiner Wahl in der Zeitung zelebriert worden. Letztendlich hatte seine Überlegung aber viel weniger Skandal-Potential als von den Schlagzeilen-Verfassern womöglich erhofft. Selbst Theaterdirektor Tobias Ehinger signalisierte in seinem Statement dazu Verständnis für Kaloutis Überlegungen. Auch an diesem Abend schaut er im Bosporus vorbei und begrüßt seinen Kollegen sehr freundlich. Die Theaterleute sind überhaupt oft hier, weil sie auch nach den späten Vorstellungen immer noch etwas zu essen bekommen. In diesem Moment erreicht uns ein Teller mit ganz phantastischen, frittierten Calamari-Ringen mit Joghurt-Dill-Dip und frischer Zitrone.

Theaterdirektor Tobias Ehinger

Es kommt fast ein bisschen Urlaubsfeeling auf. Alexander Kalouti greift zu und sieht zunächst entspannt aus, während er von kultureller Entwicklung spricht. Doch da liegt noch ein ernstes Thema auf dem Tisch…

„Ich fände es toll, wenn wir so eine Art Kulturmeile hätten“, beschreibt er seine Visionen, „Doch wenn wir deswegen auch nur zwei Schulen weniger bauen würden, wäre das für unsere Gesellschaft eine größere Schwierigkeit, als jetzt ein Schauspielhaus nicht zu haben. Die junge Bühne hingegen wird ja jetzt gebaut. Die zentrale Frage ist aber: Mit welchen Investitionen bekommen die meisten Menschen einen Benefit? Und wir leben in einer kosmopolitischen Gesellschaft. Ich sage jetzt bewusst nicht: ‚multikulturelle Gesellschaft‘. Warum? – Für mich hat das diese Konnotation ‚verschiedene Kulturen leben nebeneinander her und verbinden sich nicht.‘ Ich finde es aber wünschenswert, wenn aus diesen Unterschieden etwas Gemeinsames entsteht.“ 

Wir sind an dieser Stelle auf direktem Weg zu Diskussionen, die seit einigen Jahren unsere Gesellschaft bestimmen und mitunter für Gräben zwischen Menschen sorgen. Es streiten normale Bürger, die eigentlich inhaltlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Angefangen hat die Spaltung mit „Ich bin ja kein Nazi, aber…“ als 2015 sehr viele Menschen aus Syrien hierhin flüchteten. Sie wuchs mit dem Erstarken der AFD. Verstärkt durch Wortgefechte in den sozialen Medien, bei denen Wokeness auf der einen Seite und „wird man ja wohl noch sagen dürfen“ auf der anderen gespielt werden, scheinen wir alle in eine Hab-Acht-Stellung geraten zu sein. Auch im Wahlkampf wurde versucht, mit Vorwürfen bezüglich menschenverachtender oder fremdenfeindlicher Äußerungen Stimmung zu machen. Am Ende befanden viele Menschen aber, dass Spaltung einer Gesellschaft schädlich ist. Und womöglich war auch das ein wesentlicher Auslöser für das Scheitern des bisherigen Oberbürgermeisters in der Stichwahl. Doch Kalouti ist ja nicht nur ein „alles ist besser als die SPD“-Profiteur. Nein, er bringt neben seinem – schon auch beruflich bedingten – Gespür für die richtige Wortwahl auch noch eine ganz persönliche Migrationsgeschichte mit.

„Wenn wir von ‚multikulturell‘ sprechen, dann klingt das ja wie so ein fröhlicher Flickenteppich. Das ist ganz bewusst verniedlichend beschrieben. Aber dann sehe ich, dass Menschen so verschieden sind und nicht mehr miteinander kommunizieren können, weil sie keine Verbindung zueinander haben. Sie können sich nicht auf bestimmte Grundwerte einigen, gerade was Toleranz angeht oder Emanzipation. Wenn Leute sagen ‚Aber in meiner Kultur gehört es dazu, dass ich Frauen nicht die Hand gebe‘, dann muss ich sagen, das finde ich nicht gut. Man hat hier jahrhundertelang dafür gearbeitet, dass wir eine offene Gesellschaft haben. Diese Offenheit sehe ich als absolutes Fundament unseres Zusammenlebens. Da ist es dann völlig egal, woher man stammt. Wenn man sich dazu committet, indem man hierherkommt, sollte man sich auch dementsprechend integrieren.“

Alexander Kalouti hat es womöglich ein kleines bisschen leichter, sich hier eindeutig und kompromisslos zu positionieren. „Ja, natürlich habe ich da einen Vorteil, eben auch durch meinen arabischen Migrationshintergrund. Wenn jemand äußert, er sei der Ansicht, dass die Scharia in Deutschland nichts zu suchen hat, dann kann es passieren, dass ihn ein anderer deswegen ‚Nazi‘ nennt. Das ist doch völliger Irrsinn! Stattdessen sollte man sagen: ‚Wenn du die Scharia als Gesetzesgrundlage haben willst, dann geh nach Saudi-Arabien, da gibt es sie! Aber wenn du hier bist, wo wir eine offene Gesellschaft haben wollen, mit dem Grundgesetz als Fundament, dann ist dein Wertekanon falsch‘. Oder platt ausgedrückt: Wenn ich Handball spielen will, dann gehe ich nicht ins Fußballteam.“ Und weil es manchmal wirklich komische Zufälle gibt, kommt ziemlich genau an dieser Stelle eine junge Frau an unseren Tisch. Wir sitzen etwas abseits des Geschehens. Worüber wir gerade sprechen, kann sie nicht mitbekommen haben. Man spürt an der Art und Weise, wie sie sich Kalouti nähert, dass es ihr einerseits unangenehm ist, hier ein Gespräch zu unterbrechen, andererseits aber offenbar besonders wichtig. Sie entschuldigt sich und fragt dann zunächst, ob er arabisch spreche – tut er nicht. Dann erklärt sie, dass sie sich ganz besonders über seine Wahl freue. Sinngemäß drückt diese Zustimmung aus, dass sie sich wohl in besonderer Weise als Bürgerin von ihm vertreten fühlt, weil Migration für ihn nichts Fremdes ist. Alexander Kalouti wirkt ein kleines bisschen verlegen, gerührt und er freut sich.

„Vielleicht zeigt meine Geschichte auch, dass jeder hier alles erreichen kann, wenn er sich anstrengt. Es gibt eben doch keine Grenzen für jemanden, der Migrationshintergrund hat. Wenn das anderen Menschen Mut macht, würde mich das freuen.“ Weil wir alle ein bisschen nachdenken, über die Frau, die ihn da eben angesprochen hat, ist es gut, dass weitere Köstlichkeiten unseren Tisch erreichen. Selbst gerollte, gefüllte Weinblätter werden uns mit kleinen, orangenfarbenen, gefüllten Paprikaschoten kredenzt. Und der Kellner findet wundersamerweise noch Platz für einen Teller gebratene Kalbsleber mit Petersilie und Sumak. Dazu bringt er köstliche und schön scharfe Cig Köfte. Wir genießen einfach.

Das ist eine gute Gelegenheit, mehr über den privaten Menschen in unserer Mitte zu erfahren. Sein zweiter Vorname „Omar“ ist arabischen Ursprungs und bedeutet „der Langlebige“, „der Blühende“ oder „der Wohlhabende“. Aber wie kam es dazu, dass seine Mutter, Lehrerin aus Brandenburg und sein Vater, Arzt

aus dem Libanon, einander kennenlernten? „Meine Mutter war 1961 mit ihrer Familie noch vor der Grenzschließung aus Eberswalde geflohen“, erzählt er, „Damals fuhr man mit der S-Bahn über den Bahnhof Gesundbrunnen in den Westen. Als nächstes landete sie im Aufnahmelager Friedland in Hessen. Während meine Oma und mein Onkel nach Marburg weiterzogen, begann meine Mutter in Freiburg ihr Lehramts-Studium und verliebte sich in meinen Vater, der dort Medizin studierte.“ Nach ihren Abschlüssen gehen beide zusammen nach Beirut. „Das galt damals als das ‚Paris des Nahen Ostens‘. Meine Mutter wollte dort an der deutschen Schule arbeiten. Wahrscheinlich hing ihr Fernweh, ihre Sehnsucht nach fremden Ländern, mit der Vorgeschichte in der DDR zusammen.“ Als jüngstes von fünf Kindern wird Alexander dann im Libanon geboren. Doch das Land destabilisiert sich zunehmend. Die Familie beschließt, wieder nach Deutschland zurückzugehen, landet in der Nähe von Heidelberg und Alexander Kalouti wächst in der oberrheinischen Tiefebene auf. „Als Jüngster am Küchentisch stand ich immer vor besonderen Herausforderungen“, erinnert er sich, „in unserer Familie war so ein sarkastischer Humor ganz typisch. Immer, wenn ich unbedingt gleichberechtigt mitreden wollte, wurde ich als Kleinster ganz besonders kritisch hinterfragt. Geschwister schenken sich ja nichts, schon gar keine wohlwollende Aufmerksamkeit. Wir hatten so einen Wettstreit, immer die Schwachstellen und Widersprüche in der Argumentation des Anderen aufzudecken und genau da anzusetzen.“ Entsteht hier vielleicht schon eine Sehnsucht danach, eine eigene Bühne zu haben, die ihn später dazu bringt, die Schauspielschule zu besuchen? Auch seine ältere Schwester wird Schauspielerin, die andere Lehrerin, die Brüder Arzt und Informatiker. 

Auf Umwegen kommt Alexander Kalouti zu seiner Rolle als OB-Kandidat und auch zu seiner neuen Heimat Dortmund. Lustigerweise ist er hier in einer Stadt gelandet, die – ein kurzes, kommissarisches Intermezzo einmal außen vorgelassen – seit Günter Samtlebe keinen gebürtigen Dortmunder mehr in diesem Amt hatte. Trotzdem wurde das im Wahlkampf immer wieder thematisiert. Und noch mehr: „Da hieß es noch, ‚wenn die Parteien keine Chance haben, dann schicken sie die Leute aus der vierten Reihe rein oder Ausländer oder Frauen‘. Und von derartigen Sprüchen gab es noch mehr“, so Kalouti. Aber er will nach vorne blicken und nicht auf Medien oder Mitbewerber schimpfen. Natürlich müssen alte Strukturen hinterfragt werden, das Argument „haben wir schon immer so gemacht“ zählt nicht mehr. Trotzdem will er sachbezogen vorgehen und nicht wie der sprichwörtliche neue, gut kehrende Besen einfach alles verändern. Öffentliche Sicherheit ist ein großes Problem und auch Mitursache für eine weitere, nicht schöne Entwicklung, die uns im Ergebnis leere Fußgängerzonen beschert hat.

Im Wahlkampf hat er von einer grünen Stadt gesprochen, lebendig und in der auch nachts  noch viele Menschen unterwegs sind. Allein das verbessert schon die Sicherheit durch die soziale Kontrolle, die dann stattfindet. Auch der Westenhellweg sollte stärker bewohnt sein. Dazu bräuchte es natürlich auch wieder Geschäfte des täglichen Bedarfs. In der Presse war mal zu lesen, McDonald’s am Westenhellweg würde monatlich 41.600 Euro Miete zahlen. Wenn dort ein Lebensmittelladen wäre, wieviel müsste man denn dann wohl für ein Stück Butter bezahlen, damit sich das rechnet? Zumal ja vermutlich nur die Anwohner im direkten Umfeld hier ihre Lebensmittel kaufen würden. „Ich weiß es nicht und ich kann solche Preise auch nicht vorschreiben. Aber es gibt ja noch andere Faktoren. Wenn wir uns jetzt den Westen- und Ostenhellweg anschauen, gerade an den jeweiligen Enden, dann ist da Leerstand. Das führt schleichend zu weiterem Wegzug von Geschäften. Da ist natürlich die Frage: Wollen die Eigentümer das?“ Heißt das, sie müssen eben einfach mit den Mietpreisen runtergehen? „Ich glaube, das Ganze ist komplexer.

Es gibt ja solche Leute wie Matthias Hilgering vom gleichnamigen Weinhaus am Westenhellweg. Er macht auf mich den Eindruck, als sei er persönlich sehr an einer positiven Entwicklung vor Ort interessiert. Er wohnt auch selbst über seinem Laden. Natürlich muss sich eine Veränderung irgendwo noch rechnen, keine Frage. Aber da wünsche ich mir ein Miteinander von allen, auch von den Behörden. Hilgering bleibt dort, obwohl er mit Dreck vor der Tür kämpfen muss und mit teilweise schwierigen Bedingungen. Auch andere Investoren wären daran interessiert, hier Wohnungen zu bauen. Allerdings gibt es zum Beispiel eine Stellplatzauflage. Je nachdem ist da ein Stellplatz pro Wohnung gefordert. Hier kann die Kommune jedoch Ausnahmeregelungen schaffen, sofern sie denn will. Wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt haben können, bewegen wir sie auch wieder dazu, hier wirklich zu wohnen.“ Er selbst lebt ja schon direkt in der City, weswegen er sowohl Rathaus, als auch das Bosporus zu Fuß erreichen kann. Abends nach dem Theater hat er oft Hunger, aber keine Lust mehr, sich selbst etwas zu zubereiten. Die „kleine“ Grillplatte, die uns gerade erreicht hat, kennt er bestens: Lammkoteletts, Lammfilet und zarte Kalbmedaillons liegen perfekt gegrillt auf mediterranem Gemüsebett. Petersilie und Zwiebel mit Sumak neben kleinen goldbraunen Backkartoffel-Pralinen sind gesäumt von dünnem Fladenbrot. Letzteres saugt dann den Bratensaft auf und stellt eine zusätzliche Delikatesse dar. Die köstliche Granatapfelsoße, ein Klassiker des Hauses, gibt dem Ganzen noch den besonderen Twist.

Kommt jemand her, der unter anderem schon in Beirut, London und Süddeutschland gelebt hat, nimmt er unsere Stadt automatisch zunächst anders wahr als wir selbst, die schon immer darin leben. Dem Ruhrgebiet wird der Spruch zugeschrieben „anderswo ist auch scheiße“, als zusammenfassendes Urteil über die Region, die den Strukturwandel noch nicht ganz verdaut hat. Das zeigt natürlich auch, dass wir über Galgenhumor verfügen. Trotzdem: „Das würde ein Bayer niemals sagen“, so Kalouti, „und überhaupt müsste das längst nicht mehr unser zentrales Statement sein. Natürlich haben die Menschen hier andere Stärken als die im Süden. Sie sind grandios darin, aus jeder Situation das Beste zu machen. Als ich kürzlich im Radio gefragt wurde, ob ich stolz sei auf meinen Wahlsieg, da konnte ich nur sagen, dass ich vielmehr stolz auf die Dortmunder bin. Wenn man jemanden wählt, der erst vor elf Jahren hierhergekommen ist, der Migrationshintergrund hat und man es aber trotzdem mit ihm probieren will, dann muss man schon ganz schön offen sein. Und diese Offenheit von den Leuten hier, die ist wertvoll und besonders.“ 

Als er zum ersten Mal hier beim Neujahrsempfang im Konzerthaus stand, bekam er Gänsehaut. „Da wurde das Steiger-Lied gesungen. Alle Menschen um mich herum haben voller Inbrunst eingestimmt. Das ist ein Stück Identität. Ich bin mir sicher, dass keiner von den Gästen dort jemals in einem Bergwerk gearbeitet hat. Aber dieses Lied steht für ein Stück Ruhrgebiet. Da ist dieser Nimbus von den Bergleuten unter Tage in Zeiten, als hier sozusagen das wirtschaftliche Powerhaus Deutschlands war. Daraus sollten wir durchaus neues Selbstbewusstsein schöpfen. Nach dem zweiten Weltkrieg war die Innenstadt zu 95 Prozent zerstört. Klar, dass wir nicht so viele schöne Häuser haben wie manch andere Städte. Aber der Geist und die Energie hier ist besonders.“ Das Eigenmarketing Dortmunds, gerade bei möglichen Investoren und Unternehmen, will er massiv voranbringen. Überhaupt hat er so viele Pläne, die er uns ja in den vergangenen Wahlkampfmonaten immer wieder nahegebracht hat. Doch jetzt geht es an die Umsetzung. Und auch wenn er stark, zuversichtlich und sehr entschlossen wirkt, müsste eigentlich jedem normalen Menschen auch ein wenig mulmig werden. Die Zeit zwischen Stichwahl und Amtsantritt im November nutzt er intensiv für Gespräche mit allen möglichen Gruppen und Fachleuten. 

An diesem Abend werden wir Zeuge einer offensichtlich schon oft geführten Diskussion: Kalouti ist überzeugt davon, dass das Dessert Künefe eigentlich „Kunafah“ heißt und in der Stadt Nablus, nahe Jerusalem erfunden wurde, wo seine arabisch-stämmige Familie lebte, bevor sie nach Beirut floh. Sami Yilmaz hingegen, Sohn des Bosporus-Wirtes und selbst Betreiber von Samis Theaterbar, behauptet felsenfest, dass Künefe in seiner Heimatstadt Hatay erfunden wurde. Sie finden natürlich auch an diesem Abend keinen Kompromiss. Wir lassen das Treffen mit

weniger gewichtigen Themen ausklingen: Kalouti liebt den BVB und geht gerne ins Stadion.  Dort möchte er allerdings lieber konzentriert dasitzen und Spielzüge sowie die umsitzenden Menschen analysieren. Er beobachtet gerne. Manchmal imitiert er auch das Gesehene. Bis heute bereuen alle Beteiligten, dass sie nicht so geistesgegenwärtig waren – oder so dreist – zu filmen, wie er seine Augen hervorquellen lässt, sich merkwürdig aufsetzt und mit Fistelstimme eine von ihm nicht namentlich benannte, aber ihn sehr nervende Person imitiert. Allein die Erinnerung an diesen unfassbar witzigen Beleg seiner Schauspielkunst lässt uns noch immer schmunzeln. Das hätte wirklich Meme-Potential gehabt! Sie wissen schon, diese lustigen kurzen Videosequenzen, mit denen man an passender Stelle auf den sozialen Medien eine Reaktion verbildlicht. Aber natürlich passt es nicht zur Würde des Amtes, das er bald antreten wird. Zum Ende des Menüs serviert uns der Patron noch Künefe, den traditionellen Nachtisch aus Engelshaar (Kadaifi), Käse, ähnlich wie Mozzarella, Sirup und gehackten Pistazien. Es schmeckt so gut, dass uns vollkommen egal ist, wer es nun erfunden hat. Wir haben in den über sechs (!) Stunden des intensiven Gesprächs den Eindruck gewonnen, dass wir alle sehr froh sein können, einen authentischen, tüchtigen und entschlossenen Mann wie ihn an der Rathausspitze zu haben. Er hat sehr glaubhaft den Eindruck vermittelt, dass er auf die Menschen in der Verwaltung offen zugehen will. Statt teils durchaus berechtigter Kritik an seinen politischen Gegnern für manch unfeine Wahlkampf-Aktion haben wir eigentlich nur Zukunftsgewandtes aus seinem Munde vernommen. Hier sitzt nicht einer, der nach der erfolgreichen Wahl immer wieder neu gegen seine politischen Konkurrenten siegen will. Wir haben einen Mann erlebt, der hofft, dass durch gemeinsames Handeln der Akteure im Rathaus am Ende unsere ganze Stadt gewinnt.

Text: Daniela Prüter, Silke Albrecht, Bilder: Oliver Hitzegrad